Electro Punk

   Für mich lange Zeit undenkbar, dass Punk mit Synthie bzw. Electro eine Symbiose eingehen dürfen, ja, es störte mich regelrecht, wenn Bands anfingen, eine Orgel oder ein Synthie einzusetzen. Das war für mich kein Punk mehr. Schließlich waren es gerade die jungen, aufstrebenden Bands aus England und Deutschland, die mit Gitarre, Bass, Schlagzeug und Gesang den weichgespülten Synthie-Pop aus dem Neonlicht kickten. Tatsächlich haben jene Synth Punkbands sich den harten Elementen des Punk Rocks angeeignet und die Dominanz der Gitarren mit Synthesizern und manchmal auch mit Drum-Maschinen ersetzt. Diese musikalische Entwicklung ist eine Parallele zum Punk und eine experimentelle Tradition. Und das in Zeiten, in denen der Computer und die damit erzeugten Töne noch Zukunft(smusik) waren.
Electro und Punk, das war immer schon eine Kontroverse, heute ist das Verständnis umso größer, da sich eigene Szenen etabliert haben, die mit den selben Mechanismen wie jede andere Musik-Szene auch funktionieren: zwischen DIY-Kultur und kommerzielle Ausbeutung durch die Industrie. Zu der Zeit, als ich 1982 bewusst mit Musik hören und entdecken (von ADAM&THE ANTS zu SEX PISTOLS, DEAD KENNEDYS, DIE TOTEN HOSEN) anfing, existierten unüberwindbare Grabenkämpfe zwischen Punx und Popper, Punkmusik und New Wave-Musik. NDW kam gerade auf, eine Erfindung der Medien und der Musikindustrie, die nächsten Feindbilder waren geschaffen.
Bands aus dem Ruhrgebiet, aus Westberlin und sogar aus der Pogo-Hauptstadt Hamburg arbeiten plötzlich mit Synthesizern, mit anderen, für sie neuen Töne, sie experimentieren, Ende der 70er Jahre, Anfang 80er, suchen eigene Ausdrucksmöglichkeiten, Konzepte, multimediale Aktionen, wie Plan aus Düsseldorf.
Gode von den hamburger CORONERS sagte zum neuen Phänomen Punk mit Synthie: “ Synthesizer… das ist doch schwachsinnig. Ja gut, als Hintergrundmusik, aber diese Kaspermusik, die aus den billigen Dingern rauskommt. Da kannste dir gleich ne Karstadt-Orgel kaufen. Ein guter Synti kostet 3000. Wer von uns hat das denn? Das sind ja auch andere Typen, da kommt entsprechend eine andere Musik raus. Ich sage ja nicht, daß die kein Bock darauf haben. Die Musik paßt sehr gut zu diesen Typen .” (Quelle: SoundS 11/79)
Michael von HANS-A-PLAST sagte zum gleichen Thema: “ Für mich ist das Experimentieren mit Geräuschen – nicht mit Rock-Musik das machen die ja garnicht – keine Sache für Live-Auftritte. Beim Markthallen-Fest waren die völlig fehl am Platze. Ich betrachte das nicht als Weiterentwicklung, diese elektronische Richtung. Es ist was völlig anderes. Eine ganz andere Ecke(…)” . (Quelle: SoundS 11/79)
Fürwahr, das Experimentieren mit neuen Instrumenten und das Erzeugen von neuen Tönen war für die einen Verrat, für die anderen eine musikalische Weiterentwicklung und hat eine grundsätzliche Diskussion in Gang gebracht: Schafft die Technologisierung des Punk mit Maschinen, vom Bandgerät bis zum Synthesizer, neue / alte Abhängigkeiten, zerstört sie die Grundidee, Punk kann jeder machen, schafft sie neue / alte Supergruppen?
Auf jeden Fall gibt es eine klare Antwort: Das Experimentieren mit Geräuschen schafft neue Impulse. Das haben Bands wie SUICIDE und DEUTSCH AMERIKANISCHE FREUNDSCHAFT verdeutlicht. Punk war tot, plötzlich gab es da was anderes:

AVANTGARDE
Punk und Kunst verschmolz in den Städten zur elitären Ausstellung und beruhte auf das Verständnis, dass Punk künstlerische Elemente hervorbrachte. Punk war in den vergangenen Jahren mehrmals Aufhänger für Ausstellungen. “Zurück zum Beton 1977-82″ zeigte 2002 in der Kunsthalle Düsseldorf die Anfänge von Punk und New Wave in Deutschland.
Jürgen Teipel, dessen Buch “Verschwende deine Jugend” die Idee zur Ausstellung lieferte, fungierte als Ko-Kurator. “ostPUNK! – Too Much Future” trug 2005 Material über Punk in der DDR 1979-1989 im Salon Ost in Berlin zusammen. “Panic Attack! Art In The Punk Years” hob im Sommer 2007 in der Londoner Barbican Art Gallery das Kunstschaffen in London, New York und Los Angeles hervor. Im Kontrast zu den genannten Ausstellungen kam 2008 “PUNK. No One Is Innocent” in der Kunsthalle Wien ohne Anliegen oder Anlass daher.
Die österreichische Künstlerin Valie Export hat Punk mit seinen Publikumsbeschimpfungen und -bespuckungen, die später zur Geste von Punkbands werden sollten, bereits 1969 antizipiert: In ihrer Aktion “Attack Lecture” im Rahmen der Underground Explosion in Köln, München, Zürich, Essen und Stuttgart peitschte sie ZuschauerInnen aus und warf Stacheldrahtballen ins Publikum, während der österreichische Künstler, Autor und Kurator Peter Weibel obszöne und politradikale Parolen ins Mikrofon schrie.
Durch das Experimentieren und die Hinzunahme elektronischer Mittel entwickelte sich Punk zu einem eigenständigen, neuen Musikfeld. Elektroakustische Musik und elektronische Musik als neues Klangfeld war zugleich Pionierarbeit, die Bands wie D.A.F. leisteten. Elektronische Tanzmusik und das Sampling waren in den 80er Jahren die Vorboten des Techno. KRAFTWERK, SUICIDE und D.A.F. hatten erheblichen Anteil und Einfluss auf spätere Musiker und Musikrichtung wie Techno, in der Drumcomputer, Samples und Softwareprogramme ein neues charakteristisches Klangbild erzeugten.
Mit LARD und ATARI TEENAGE RIOT gab es Ende der 80er Jahren Bandprojekte, die die Radikalität, die Intensität von Punk aufgriffen, mit schnellen, harten Industrial-Beats unterlegten und mit zynischen, politischen Texten bekleideten. Die Verschmelzung von Industrial und Punk/HC öffnete einer neuen Ära die Toren und erschloss ein neues Feld:

Die Industrial Culture-Szene
”Unsre Melodie ist das Schreien der Maschinen. Unsere Musik ist das Brüllen der Motoren. Unsere Klänge das letzte Aufbäumen. Wir tanzen den Untergang, um zu leben.” (Einstürzende Neubauten)
Industrial bezeichnet eine spezielle Musikrichtung, die ihre Wurzeln im Punk hat. Monte Cazazza gibt mit dem Satz: “Industrial music for industrial people” der ganzen musikalischen Richtung und einem Independant Label den Namen. Die Konzentration des Punk auf die Theorie der Situationisten gibt der neuen Richtung Industrial den Anstoß für die gezielte Beschäftigung mit den Niederungen einer durch ökonomische Interessen beherrschten Gesellschaft. Die Industrial Culture radikalisierte in Kenntnis künstlerischer Provokationsmechanismen die Ideen des Punk. Industrial und Punk waren aber auchTeil derselben Aufbruchstimmung. Beiden Bewegungen ging es um den Entwurf einer völlig neuen Ästhetik und darum, die marktbeherrschende Plattenindustrie zu ignorieren und möglichst eigene Vertriebs- und Kommunikationskanäle zu etablieren.
Die Industrial- Szene ist keine jugendliche Subkultur im eigentlichen Sinne, da sich ihre Mitglieder in der Mehrzahl in der Postadoleszenz befinden. Sie ist eine Subkultur, die aus extremen Randformen der Kunst entsteht, kein klar identifizierbarer, expressiver öffentlicher Stil. Industrial bewegt sich zwischen Subkultur und Kunst. Der interdisziplinäre Ansatz von Industrial verbindet die Musik mit Technologie, Wissenschaft, Literatur und Kunst. Der Schwerpunkt dieses subkulturellen Stils liegt in der Musik, um die sich dann unterschiedliche ästhetische und literarische Medien gruppieren, die die Intention der Musik im Sinne eines Gesamtkunstwerks unterstreichen und erweitern. Viele der Industrial Bands unternehmen den Versuch, in ihrer Musik Brion Gysins Cut-Up Theorie umzusetzen, die vor allem William Burroughs literarischen Stil prägt (so zum Beispiel ATRAI TEENAGE RIOT). Burroughs zerlegt Tonbänder mit unterschiedlichen Aufnahmen in kleinste Fragmente, um sie wieder willkürlich zusammenzusetzen. Er beschreibt Waffen und Techniken des Kriegsspiels.
Traditionelle Studios waren nicht willig und auch nicht in der Lage, die außergewöhnlichen Töne in adäquater Qualität zu produzieren. Vielen Mitgliedern der Industrial Culture-Szene ist es von Anfang an sehr wichtig, eigene Strukturen für die Verbreitung ihrer Ideen aufzubauen. Die Bands gründe eigene Platten- (z.B. Industrial Records von Throbbing Gristle, Digital Hardcore Recordings von ATR) oder das Factory Label) und Video Labels (Double Vision von Cabaret Voltaire).

Zeit für Experimente
Was mich zum Themen-Schwerpunkt veranlasst hat, war die Tatsache, dass gerade diese Verbindung, also die DIY-Kultur, die Provokation, der Lärm, die Selbstinszenierung und -zerstörung so geradlinig in das Labyrinth aus Kreativität, Produktivität und (Selbst-)Vermarktung eindringen konnte. Punk und Industrial sind also in ihrer Anti-Haltung durchaus verwandt. Was mich besonders interessierte, waren die unterschiedlichen Aspekte und Facetten, die Electro als Genre mit sich brachte. Im Fall von DEUTSCH AMERIKANISCHE FREUNDSCHAFT war das die Kontroverse, die das Duo Görl/Delgado mit ihren Texten und dem Styling auslöste. Bei ATR die politische Radikalität, bei Sputnik Booster die kreative Umsetzung der 8-Bit-Technologie. Und mit N.I.C.H.T.S 2.0 schließt sich der Kreislauf aus NDW, Punk, Electro, da die Band diese Schubladen öffnet, bedient und das herausholt, worum es im Schwerpunkt eigentlich geht. Um Experimente mit Klangbildern, um Pionierarbeit und um Neurorientierung.

Ein Resultat dieser musikalischen Neuorientierung war neben D.A.F. auch die Band DIE KRUPPS ( www.die-krupps.de    ).
Als Punkband MALE gestartet, verließ Sänger/Gitarrist Jürgen Engler das Terrain PUNK und suchte nach neuen Ausdrucksformen. Die Krupps fand sich erst, nachdem der Song “Stahlwerksinfonie” (1981 der Titelsong des ersten Krupps-Albums) schon aufgenommen war, und sollte dem neuartigen Sound entsprechen. Als “Namenspatron” diente der Band schließlich die gleichnamige Essener Gußstahl-Dynastie – durch ertragreiche Geschäfte vorzugsweise in Kriegszeiten zu zweifelhaftem Ruhm gekommen. Engler war seinerzeit auf der Suche nach einer griffigen Formel – möglichst auch international ohrenfällig -, die auf Anhieb Vorstellungen von Deutschland wecken sollte: eben “ein Spiegelbild dessen, wie Deutschland im Ausland gesehen wird”. Nämlich mit gemischten Gefühlen – was Englers eigener kritischer Sicht entspricht: das Symbol “Krupp” steht nicht nur für Metall-verarbeitendes Gewerbe und deutschen Fleiß, sondern verkörpert genauso Hitlers Kriegsmaschinerie, die Krupp anzuschieben half.


Enter the Mythmachine
SUICIDE ( www.myspace.com/revega    ) waren die Ersten, die Elektronik mit Rock’n’Roll-Attitude herüberbrachten und das Unterkühlte, Monotone und Treibende der Elektronik mit dieser ganz speziell verzweifelten Passion des Rock’n’Roll verbanden und betonten. Die Ur-Väter des Elektropunk gründeten sich 1970 in New York. Martin Rev (Keyboard) und Alan Vega verknüpften die Tradition von Elvis in seiner Sun-Session-Phase, Link Wray und dem ganzen Rocka- und Psychobilly, den Stooges und Velvet Underground mit der vehementen Radikalität von Minimalismus, Free Jazz und freier elektronischer Improvisation.
Suicides frühe Originalität basierte auf hohem künstlerischem Risiko – über sechs Jahre lebten Alan Vega und Martin Rev die meiste Zeit ohne feste Wohnung und ohne Geld in New York und in dem Bewusstsein, dass Reduktion und Konsequenz mehr sein kann als 100 gute Ideen, denen letztendlich Punkt und Faden fehlen. Die Liste der von Suicide beeinflussten Bands ist lang, um nur die offensichtlichsten zu nennen: The Sisters Of Mercy, Soft Cell, Depeche Mode, The Cassandra Complex, The 39 Clocks, Spiritualized, Jimi Tenor, Add N to X, Fisherspooner – sie alle verdanken dem Duo mehr als nur eine Inspiration.
Die typischen musikalischen Parameter bei Suicide sind Revs pulsierend-organische Monotonie, die originären Maschinenfunk- und -blues generieren kann. Hinzu kommt Vegas zittrig-fahrige, atmende, flehentliche und mitunter kurz vorm Überschnappen stehende Stimme. Aus dieser Intensität entsteht eine schneidende Tiefe, die Dringlichkeit hörbar macht. Indifferent ist das nie. Alan Vegas mal kryptische, mal offensichtliche Dekonstruktionen von privaten und öffentlichen Mythen ist Ausdruck einer desillusionierten Klarsicht angesichts des amerikanischen Traums, der zum Alb geworden ist: »America is an experiment, which has gone terribly wrong«, so brachte Jean Baudrillard die Misere einst auf den Punkt – und genau das macht das Duo Suicide auf eindringliche Weise hörbar. Sie spielen eine sehr »weiße« Musik, obwohl sie Derivate aus Blues und Jazz in ihr maschinelles Mythentrauma überführen.
Nach dem Suicide 1977 und 1980 zwei ebenso poppige wie apokalyptische Platten veröffentlichten, trennten sich die Wege von Rev und Vega immer häufiger. Sie veröffentlichten in der Folgezeit überwiegend Soloalben zwischen Minimaltechno und reinstem Rockabilly. Dennoch gab es immer wieder Einladungen zu ART-Events und Techno-Festivals, auf denen das Duo bis über die Jahre 2000 auftrat.

” Suicide was always about life. But we couldn’ t call it Life. So we called it Suicide because we wanted to recognize life. ” (Alan Vega, 1985)

Back to the Roots
Ende des Jahrzehnts setzte nach und nach die Rückbesinnung auf die frühen 80er Jahre ein, in denen zahlreiche, hauptsächlich aus England stammende Bands mit romantisch-rührseligen Melodien aus dem Synthesizer die Charts eroberten. Der Übergang verlief nicht fließend. Zunächst löste die New Wave-Bewegung den Punk ab, in der Bands von unterschiedlichster musikalischer Couleur zusammen fanden. Gemeinsam war Gruppen wie The Police, Pretenders, Gary Numan oder The Cure einzig die aus dem Punk gezogene Energie, die sich musikalisch in verschiedenster Weise auswirkte. Nach und nach entdeckten viele Bands dieser Kategorie die von regelrechten Preisstürzen heimgesuchten, analogen Synthesizer.
In der Folge entwickelten sich nach und nach zahlreiche Subgenres: Als New Romantics wurden beispielsweise englische Bands bezeichnet, die besonderen Wert auf Styling legten und dies auch in offensiver Form zur Schau stellten (ADAM&THE ANTS, Duran Duran, The Human League). Für Bands wie The Cure, Siouxsie And The Banshees oder Joy Division, die Ende der 70er mit grollenden Bassläufen und Weltschmerz-Lyrik eine betont düstere Richtung einschlugen, öffnete sich das Gothic-Genre.

German Pioniere
In Deutschland zettelten KRAFTWERK bereits sehr früh an der Revolution der elektronischen Musik, schufen neue Klangwege und begründeten ein neues Genre. Mit dem Album “Autobahn” setzte das Düsseldorfer Quartett ( www.kraftwerk.com    ) 1974 einen Meilenstein der elektronischen Musik in die Welt, dessen Reichweite niemand vorhersehen konnte. Statt Gitarren zu malträtieren, gaben sich die vier Musiker der Gruppe damit zufrieden, im Proberaum an Knöpfchen herum zu drehen. Die Songs bestehen zunehmend aus reduzierten Melodiefragmenten, die sich mit Phasen von Soundeffekten abwechseln, ein Merkmal, das bis heute im Wesentlichen die Musik von Kraftwerk bestimmt. Zudem integrierten Hütter und Schneider erstmals gesungene Melodien, die sich durch eine von allen Emotionen befreite, „kalte“ Singweise auszeichnen.

Doch nicht nur das: sie besaßen gar die Chuzpe, diese bewegungsfreie Studio-Performance auch auf der Bühne vor Publikum aufzuführen.
Als Gruppen wie Depeche Mode oder Ultravox, sich am Sound vom 1978er Album “Die Mensch-Maschine” orientierten und erfolgreich wurden, hatten sich Kraftwerk bereits weiterentwickelt. Das achte Album “Computerwelt”  erschien 1981 und gilt als wichtiger Vorläufer der Musikrichtung Elektro.
Hatten die Synthesizer auf den KRAFTWERK-Alben Mitte der 70er Jahre noch die Größe eines Wandschranks, waren die analogen Synthesizer in den 80er Jahren für jedermann/frau erschwinglich. Und genau hier deckelt sich die “Do it yourself”-Attitüde des Punk mit Elektro: “ Mein einziges Talent ist es, Geräusche aneinander zu reihen ” sagte Gary Numan, britischer Musiker und Pionier des Elektropop. Und die Vorhersage von Edgar Froese, Mitglied der 1967 in Berlin gegründeten Band Tangerine Dream, im Jahre 1973, dass “in zehn Jahren wird jeder einen Synthesizer spielen” bestätigte, dass Elektro salonfähig wurde.